Mehr Produkte = mehr Verkäufe? Warum diese Rechnung nicht aufgeht

Mehr Produkte = mehr Verkäufe? Warum diese Rechnung nicht aufgeht
25
Jan

Wer mehr zu verkaufen hat, verkauft nicht automatisch mehr. Das stellte Jürgen Krenzer bei seinen geliebten 400 Apfelprodukten fest. Doch wie sortiert man am besten aus?

Wir schreiben das Jahr 2002. Seit knapp fünf Jahren existiert nun meine kleine feine „Schau-Kelterei“ rund um den Apfel. Ich wollte damals nicht nur den elterlichen Gasthof übernehmen – ich wollte auch etwas Neues schaffen und unser regionales Gesamtkonzept um das von mir geliebte und gelebte Apfelthema erweitern. Denn allein in der Rhön – so haben Apfel-Wissenschaftler, die sogenannten Pomologen festgestellt – gibt es eine unglaubliche Vielfalt an Apfelsorten. Weit über 500 verschiedene hat man bereits bestimmen können. Und diese Vielfalt inspiriert mich und mein kleines Kreativ-Team. Fast täglich erfinden wir neue Produkte aus dem und um den Apfel.

Angefangen hat es mit dem Apfelsherry, sortenreinen Apfelweinen und Apfelchips. Schnell kamen dann diverse Apfel- und Obstsenfe, Fruchtaufstriche, Apfel- und Apfelweinmarmeladen, Apfelschnäpse und -liköre, Apfelsirup, Dessertsoßen mit Apfel, Apfeltee, Apfeltrester-Paniermehl, Apfel-Fruchtgummis, Apfelbücher, Holzäpfel und und und hinzu.

Wir haben mittlerweile auch eine hübsche Verkaufshütte. Diese ist kunterbunt mit roten und grünen Plüschäpfeln dekoriert. Und wir sind stolz, die größte Vielfalt rund um den Apfel anzubieten, die es jemals gegeben hat. Ich habe die Anzahl der Artikel nie wirklich gezählt. Ich schätze, es sind knapp 300 verschiedene Produkte. Vielleicht sogar 400. Es ist schon leicht unübersichtlich. Weil es ja täglich mehr werden. Und wir werben selbstverständlich mit dem Spruch: „Herzlich willkommen im Haus der 1000 Apfel-Ideen!“ Genial, oder?

Trotz 1000 Produkten gehen die Umsätze zurück

Doch zum Saisonbeginn im Mai 2002 gehen die Umsätze zurück. Und zwar ordentlich zurück. Haben sich seit Jahresanfang halbiert. Ich habe natürlich sofort den Schuldigen ausgemacht. Das ist auch nicht schwer. Nämlich den Euro! Genau. Denn seit der Einführung des Euros im Januar 2002 sind die Menschen extrem kaufzurückhaltend geworden. So jedenfalls meine Beobachtung.

Die Gäste gehen in unseren bunten Laden und finden das richtig toll. So wie vorher auch. Aber sie verlassen unser „Haus der 1000 Apfel-Ideen“ gerade mal mit einer Kleinigkeit. Verlegenheitskäufe nennt man das wohl. Der durchschnittliche Umsatz dieser Käufe beträgt knapp 2 bis 3 Euro pro Einkäufer. Sch… Euro, denke ich so bei mir.

Meine damalige Lebensgefährtin und jetzige Frau will nicht so ganz an meine Verschwörungstheorien glauben. Sie holt einen Freund der Familie ins Haus beziehungsweise in unsere schmucke Verkaufshütte. Dieser Freund ist Strategie- und Marketingberater. Doch sowas habe ich bisher nie gebraucht. Und bin daher skeptisch. Sehr skeptisch sogar.

Als unser „Berater“ Georg auftaucht, schildere ich ihm die prekäre Situation. Und erkläre ihm auch gleich die böse Welt des Euros. Er hört sich geduldig meine Jammerei nebst Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien an (schuld sind bekanntlich immer die anderen!) und verschwindet dann in unserem bunten Apfel-Laden.

Überfordert die Angebotsvielfalt den Kunden?

Eine halbe Stunde später kommt er wieder heraus und möchte mit Sylvi und mir reden. Aber nicht hier im Betrieb. Es braucht dazu einen anderen Ort und viel Zeit. Sehr viel Zeit. Ich schlage daraufhin den Kreuzberg vor, einen meiner Lieblings-Kraftplätze. Das ist der heilige Berg der Franken, knapp 25 Kilometer von uns entfernt. Dort gibt es ein Kloster, in dem wir übernachten können – und natürlich gibt es süffiges Klosterbier. Davon werde ich heute das eine oder andere brauchen, sagt Georg augenzwinkernd zu mir.

Wir packen unsere Sachen und sitzen eine Stunde später bei einer Maß und bestem Rhönwetter am Rande des gut besuchten Klosterbiergartens. Ich nehme einen kräftigen Schluck Märzenbier und beiße in meine ofenwarme Brezel, als Georg das Gespräch eröffnet: „So geht es nicht weiter, Jürgen. Das sind viel zu viele Produkte. Da blickt doch keiner mehr durch! Wenn du da eine halbe Stunde im Laden stehst, bist du komplett verwirrt. Nur weil du mehr zu verkaufen hast, verkaufst du nicht automatisch mehr. Das muss sich ändern!“

Ich will das alles gar nicht hören und bleibe bei meiner Verschwörungstheorie. Aber Georg gibt nicht auf. Und hat mit Sylvi schon eine Verbündete in seinen Kampf gegen die Apfel-Vielfalt gefunden. Ich will lieber weiterhin den Euro wieder abschaffen und leere zügig meine Maß Bier.

Das schmerzliche Aussortieren von Produkten

Als ich mit einer frischen Maß vom Ausschank zurückkomme, haben die beiden auch schon eine Strategie ausgearbeitet. Die ist ganz einfach. Zu einfach, wie ich finde: Es soll nur noch 50 Produkte im Laden geben. Und jetzt fangen die beiden auch schon an, eine Streichliste zu erstellen. Apfelsirup? Brauchen wir nicht mehr. Also streichen. Apfelblütenlikör? Braucht auch niemand. Also auch streichen. Apfelpralinen? Zu aufwendig. Gestrichen!

Als sie nach knapp einer Stunde auch noch meinen über alles geliebten Birnensenf auf die schwarze Liste nehmen, halte ich es nicht mehr aus. Ich protestiere. Werde aber überstimmt. Also hole ich mir eine dritte Maß. Denn sowas hältst man nur noch mit Alkohol aus. Auf dem Weg zum Ausschank nehme ich einen kleinen Umweg über den idyllischen Klosterfriedhof. Und denke daran, dass die beiden gerade meine Kinder töten. Alles Erfindungen von mir. Mit Leidenschaft und Herzblut entwickelt. Ausgelöscht! Einfach ausgelöscht! Von einem Berater und meiner Lebensgefährtin. Ich fasse es nicht.

Den Schwerpunkt auf ein Produkt legen

Als ich mit dem wieder gut gefüllten Bierkrug zurückkomme, sagt Georg zu mir: „Weißt du, lieber Jürgen, ein Erfinder liebt immer seine Erfindung. Aber selten den Markt!“ Ich schaue auf die Streichliste. Diese hat schon beachtliche Ausmaße angenommen. Der Betrieb im Klosterbiergarten wird jetzt gegen Abend noch stärker. Ständig laufen Menschen mit einem Biersiphon (2-Liter-Bierkrug für zu Hause) an uns vorbei. Einige nehmen sich auch kleine Partyfässchen mit. Alles gefüllt mit nur einem Produkt. Dem süffigen Klosterbier eben.

Ich schaue gerade einer Gruppe junger Leute hinterher, die sich auch für zu Hause ordentlich mit Bier eingedeckt haben. Plötzlich fragt mich Georg: „Sag mal, Jürgen, was nehmen die Gäste denn bei euch mit, wenn sie das Lokal verlassen?“ Huch – ich bin wieder hellwach. „Äh ja. Mal ’ne Tüte Apfelchips. Oder mal ein Tütchen Apfel-Fruchtgummis. Oder ’ne Flasche Apfelsaft. Manchmal auch ein Mini-Plüschäpfelchen …“

Auf einem Schlag wird mir klar, was in meinem Laden schiefläuft. Es fehlt einfach DAS Produkt. Wie eben hier in der Klosterbrauerei. Ist eben bei uns nicht ganz so einfach wie hier oben auf dem heiligen Bier-Berg. Um Ausreden war ich ja noch nie verlegen. Georg bleibt hart. „Wir müssen die Strategie noch verfeinern. Wir benötigen nicht 50 Produkte. Sondern 49 + 1 Produkte. Und dieses eine Produkt gibt die neue Speerspitze im Laden. Ein Produkt, das was hermacht, gut schmeckt, das die Leute mögen, gerne trinken und kaufen!

Die Rettung ist der ApfelSherry

Wir müssen nicht lange überlegen, welches Produkt das ist. Denn wir haben es bereits. Zum ersten Mal sind wir uns an diesem denkwürdigen Tag einig: Es ist der Apfelsherry. Früher eines von 400 Produkten – jetzt DIE Spezialität. Im Laufe des Abends gebe ich meinen Widerstand endgültig auf und arbeite konstruktiv zusammen. Als die Liste fertig ist, gehen wir zufrieden in unsere Klosterherberge.

Am nächsten Tag schon fangen wir an, unseren Apfel-Laden zu entrümpeln. Unsere Leute zu Hause sind entsetzt und verwirrt. Was haben die vor? Unser neues Leitprodukt, der ApfelSherry, wird jetzt entsprechend seiner neuen Aufgabe platziert. Und alles wird übersichtlicher. Strukturierter. Leichter. Wenn man jetzt in den Laden kommt, ist das eine Einladung zur Apfelsherry-Verkostung. Auch unsere Kommunikation verändert sich. Es macht auf einmal wieder richtig Spaß. Die Folge: Die Umsätze steigen innerhalb kürzester Zeit. Ich bin begeistert.

Heute weiß ich, dass eine Angebotsvielfalt keine Strategie ist. Sondern ein Fehler. Denn: In der Vielfalt fällt viel!

Heute machen wir 50 bis 60 Prozent des Ladenumsatzes mit unserem ApfelSherry. Wir haben uns noch stärker spezialisiert. Und diese Strategie ist auch bei unseren Gästen längst angekommen.

Früher fragen die Gäste: „Wo geht’s denn hier zum Laden?“

Heute lautet die Frage: „Wo kann man denn hier ApfelSherry kaufen?“